An den spanischen Fußballhelden hat sich die deutsche Elf bei der Europameisterschaft 2024 wahrlich die Zähne ausgebissen – Streit um einen unterschlagenen Elfmeter hin oder her. Dabei war auch in dentaler Hinsicht die Nagelsmann-Truppe bestens aufgestellt: Seit Ex-Nationaltrainer Hansi Flick im Mai 2022 für die WM in Katar mit Dr. Siegfried Marquardt einen Zahnarzt ins Coaching-Team geholt hat, wird allen Kader-Spielern genau auf die Zähne geschaut. Denn bei einem Milliardengeschäft wie dem Profi-Fußball, zählt jedes Quäntchen Fitness, das im Zweifelsfall über Sieg oder Niederlage entscheidet. Im Bereich der Mundgesundheit nicht auf dem optimalen Stand zu sein, ist somit grob fahrlässig.
Mittlerweile haben diese Möglichkeit der Leistungssteigerung zahlreiche Sportverbände erkannt und holen sich fachlichen Rat ins Haus. Dr. Marquardt ist daher nicht nur für die Profikicker zuständig, sondern unterstützt auch Spitzenathleten aus dem Skisport und dem Eishockey. Da die Schnittmengen zwischen Sport und Zahnmedizin nicht klein sind, haben sich inzwischen zahlreiche Behandler auf die Fachrichtung Sportzahnmedizin spezialisiert. Die deutschen Fachgesellschaften DGSZM (Deutsche Gesellschaft für Sportzahnmedizin) oder DGzPRsport (Deutsche Gesellschaft für zahnärztliche Prävention und Rehabilitation im Spitzensport e.V.) bieten hierzu Fortbildungen an, aber auch international finden sich Organisationen (ASD, American Academy for Sports Dentistry), die interessierte Zahnärzte schulen.
Natürlich sind Sportzahnärzte nicht nur für Leistungssportler eine enorme Hilfe. Die Fachzahnärzte sind vor allem gut vorbereitet auf die weniger schönen Ereignisse im Wettbewerb: Wenn zum Beispiel Schläge, Tritte oder Stürze zu Traumata im Gesichtsbereich führen. Beim gelockerten Zahn bis hin zu schweren Knochenbrüchen können sie mit ihrer Expertise routiniert die wichtigsten Therapiemaßnahmen einleiten. Zudem sind sie der richtige Ansprechpartner, wenn es um einen individuellen Mundschutz geht. Eine professionelle Anfertigung ist dabei ihr Geld wert: Je passgenauer die Kunststoffschienen die Zähne umschließen, desto besser ist ihre Schutzwirkung.
Eine weitere wichtige Aufgabe der Dentalcoachs ist es, Sportler über riskante Ernährungsgewohnheiten aufzuklären und individuelle Tipps zu geben. Hier zeigt sich in der Regel ein großer Bedarf, denn oft bringt die erhöhte Kalorienzufuhr der Athleten ein zahnschädigendes Ess- und Trinkverhalten mit sich.
Zahlreiche Einflüsse schädigen das Sportlergebiss
Angefangen beim süßen Müsliriegel für den schnellen Energienachschub, über zuckerhaltige Proteinshakes bis hin zu sauren Fitnessgetränken, die zu Schmelzerosionen führen: Ein Sportlergebiss ist ein Paradies für Kariesbakterien und andere pathogene Erreger. Stress im Training und bei Wettkämpfen kann zum nächtlichen Zähneknirschen (Bruxismus) führen, das sprichwörtliche “Zähne zusammenbeißen” beim ehrgeizigen Kraftakt richtet zusätzlichen Schaden an. Wertvolle Zahnsubstanz geht verloren, splittert oder bricht aus den Kronen heraus. In vielen Fällen zahlen Sportler mit ihrer Mundgesundheit einen hohen Preis, um zu den besten ihrer Gruppe zu gehören. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die oben beschriebenen Risiken nicht nur in der Theorie existieren. Eine Untersuchung an 187 britischen Fußballprofis im Jahr 2016 offenbarte den kläglichen Zustand der Zähne der Kicker. Mehr als jeder Dritte hatte Karies, mehr als die Hälfte wies Erosionsschäden auf und trotz ihres jungen Alters fanden die Autoren der Studie bei 5 Prozent eine mittlere bis schwere Parodontitis.
Bereits vor mehr als zehn Jahren widmeten Wissenschaftler sich der Mundgesundheit von Fußballern. Anhand der Befunde von Profis des FC Barcelona kamen sie zu ähnlichen Ergebnissen. Trotz ausgezeichneter medizinischer Betreuung fanden die Forscher diverse zahnmedizinische Problemzonen: Neben Karies und Zahnfleischentzündungen diagnostizierten sie Fehlbisse (Malokklusion), Bruxismus und Kronenfrakturen. Ein zusätzliches interessantes Resultat lieferte die Betrachtung des Plaqueindex (Menge an Zahnbelägen) und der Tiefe von Zahnfleischtaschen. Diese Werte korrelierten mit der Häufigkeit von Muskelverletzungen.
Dass gesunde Zähne zu besseren Leistungen führen, zeigen auch mehrere weitere Studien. Jüngst wurde an 300 Soldaten aus Taiwan untersucht, welche Auswirkungen Karies und Parodontitis auf deren sportliche Leistungsfähigkeit haben. Sowohl beim 3000-Meter-Lauf als auch bei der Maximalzahl an Liegestützen schnitten erkrankte Probanden deutlich schlechter ab. Eine andere Arbeitsgruppe widmete sich deutschen Spitzenathleten und betrachtete die Blut- und Leistungswerte von Sportlern mit parodontalen Entzündungen. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass deren maximale Sauerstoffaufnahme vermindert und auch die Maximalleistung auf dem Fahrradergometer niedriger als in der Vergleichsgruppe war. Im Grunde folgt also die fast banale Erkenntnis, dass ein Körper, der gegen entzündliche Prozesse kämpfen muss, zu keiner 100-prozentigen sportlichen Performance in der Lage ist.
Entzündete Zähne als Verletzungsrisiko
Doch die negativen Folgen entzündeter Zähne gehen weit über eine abgeschwächte Höchstleistung hinaus. Prominentes und wegweisendes Beispiel: Der frühere Bayern-Kicker Arjen Robben. Immer wieder zog sich der Niederländer Muskelverletzungen im Oberschenkel zu, die betreuenden Ärzte standen vor einem Rätsel. Erst nachdem ein Zahnarzt dem Flügelstürmer Anfang 2019 zwei eiternde Zähne entfernt hatte, sollte der Spuk ein Ende finden. Ohne jegliche wissenschaftliche Evidenz, aber doch bemerkenswert, ist auch die auffallende Leistungssteigerung des Bayern-Stars Jamal Musiala. Dieser musste ebenfalls mehrfach wegen Muskelverletzungen bei Bundesligaspielen aussetzen. Als mögliche Ursache wurde ein Weisheitszahn ins Visier genommen und vergangenen Dezember gezogen. Bei der EURO 2024 ist er nun durchgängig von Kommentatoren gelobt worden, seine drei erzielten Tore machten ihn bei diesem Turnier zum besten Torschützen des deutschen Kaders.
Nicht nur Keime und Entzündungen bremsen die Kräfte der Topspieler aus: Auch Zahnfehlstellungen und Fehlbisse führen zu Einschränkungen und erhöhen die Verletzungsgefahr. Wenn die Diagnose des Zahnarztes Richtung CMD (Craniomandibuläre Dysfunktion) geht, wird mit Zahnschienen an einer Verbesserung der Situation gearbeitet. Denn der gesamte Muskel-Skelett-Apparat kann gestört werden, wenn im Bereich des Kiefergelenks Muskeln nicht im korrekten Zusammenspiel funktionieren. Sogenannte Performance-Schienen sollen solche Dysbalancen ausgleichen und versprechen, Beweglichkeit, Gleichgewicht und Koordination des Sportlers zu verbessern.
Sportzahnmediziner haben zudem spezielle Schienen entwickelt, die vorrangig im Spitzensport zum Einsatz kommen. Diese sollen die Maximalkraft optimieren und die Wirbelsäule stabilisieren können. Darüber hinaus haben sie einen positiven Effekt auf die Sauerstoffsättigung, das vegetative Nervensystem und die Schlaf- und Erholungsphasen. Auch wenn derartige Erfolgsversprechen noch nicht hinreichend durch wissenschaftliche Studien gestützt sind, gibt es zahlreiche anekdotische Belege für die Wirkung der Schienen.
Bayern-Kicker mit Schiene therapiert
So musste auch Top-Fußballer Leon Goretzka vom FC Bayern regelmäßig einige Spiele seines Vereins als Zuschauer verfolgen, weil ihm gesundheitliche, vor allem aber muskuläre Probleme zu schaffen machten. Nachdem Sportzahnarzt Dr. Marquardt Goretzka intensiv untersucht hatte, sah man den Kicker in der Saison 2021/22 häufig mit einer Schiene auf dem Platz. Ob diese Therapie tatsächlich eine Besserung herbeiführen konnte, lässt sich nicht klar beantworten. Doch während Goretzka in der Saison 20/21 noch bei 21 Spielen ausfiel und auch 21/22 bei 20 Spielen nicht aufs Feld kam, gab es in den beiden folgenden Spielzeiten nur jeweils 7 und 6 Ausfälle.
Auch wenn im Gegensatz zu den USA, wo nahezu jede Mannschaft jeder Sportart einen “Team-dentist” vorweisen kann, die zahnmedizinische Betreuung von Sportlern in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckt, gewinnt diese Unterstützung an Bedeutung. Hansi Flick hat als neuer Trainer des FC Barcelona zur medizinischen Eingangsuntersuchung der Spieler eine zahnärztliche Kontrolle hinzugefügt und damit einer möglichen Schwachstelle direkt den Kampf angesagt. Die oben bereits erwähnte – zugegebenermaßen etwas ältere – Studie hatte den Spielern des nordspanischen Vereins diverse zahnmedizinische Problemzonen bescheinigt. Sollte dieses Manko repräsentativ für die meisten spanischen Kicker sein, ließe sich nach dem Triumph der Finalsieger bei der EURO 2024 daraus ableiten: Ein gesundes Gebiss mag den Weg zu einem Turniergewinn zwar erleichtern, am Ende braucht es dazu aber vermutlich drei oder vier weitere Zutaten, die die Magie des sportlichen Erfolgs ausmachen.